Imperiale Lebensweise, Demokratisierung und sozial-ökologische Transformation

Laufzeit: 4/2016 bis 9/2016
Prof. Dr. Markus Wissen, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Ausgangspunkt des Projekts „Imperiale Lebensweise, Demokratisierung und sozial-ökologische Transformation“ war folgendes Paradoxon: Auf der einen Seite gibt es breite gesellschaftspolitische Diskussionen über die ökologische Krise und insbesondere über den Klimawandel. Die Energiewende wurde in vielen Ländern zu einem wichtigen Thema. In den Medien ist Umweltpolitik präsent, vielfältige Forschungen finden dazu statt, eine nicht mehr überschaubare Anzahl von Fachtagungen behandeln spezifische Aspekte der ökologischen Krise und ihrer Bearbeitung. Staatliche Politik und Verwaltung befasst sich seit Jahren intensiv mit Nachhaltigkeitsthemen und auch in vielen Unternehmen und ihren Verbänden, bei einer zunehmenden Zahl von Beschäftigten und ihren Gewerkschaften scheint das Thema „angekommen“ zu sein. Im Schulunterricht sind Umwelt und Nachhaltigkeit inzwischen fester Bestandteil der Lehrpläne, an den Hochschulen gibt es ein breites Angebot von einschlägigen Studiengängen sowie von Lehrmodulen in den herkömmlichen Fächern.

Auf der anderen Seite schreitet die Umweltzerstörung scheinbar ungebremst voran: Der globale Ressourcenverbrauch hat sich seit 1970 verdreifacht; der notwendige sozial-ökologische Umbau der Gesellschaften gelingt nur in wenigen Bereichen und ist bei Weitem nicht ausreichend. Mehr noch, er wird durch höchst dynamische nicht-nachhaltige Entwicklungen konterkariert: Autos werden größer und mit stärkeren Motoren ausgestattet, der Flugverkehr nimmt weiter zu, der Fleischkonsum bleibt im globalen Norden auf hohem Niveau und die ökologisch wenig nachhaltig produzierten Smartphones wurden in den letzten Jahren fest im Alltag der Menschen verankert.

Ziel des Projekts war es, diesem Paradoxon hegemonie- und subjekttheoretisch auf den Grund zu gehen. Es ging darum, zu erklären, wie und warum in einer Zeit, in der sich Probleme und Krisen in den unterschiedlichsten Bereichen häufen, zuspitzen und überlagern, sich so etwas wie Normalität herstellt. Dazu habe ich gemeinsam mit meinem Kollegen Prof. Dr. Ulrich Brand von der Universität Wien das Konzept der imperialen Lebensweise ausgearbeitet. Dessen Grundannahme ist, dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich ermöglicht wird über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts: über den im Prinzip unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen, die natürlichen Ressourcen und die Senken – also jene Ökosysteme, die mehr von einem bestimmten Stoff aufnehmen, als sie selbst an ihre Umwelt abgeben (wie Regenwälder und Ozeane im Fall von CO2) – im globalen Maßstab. Entscheidend für das Leben in den kapitalistischen Zentren ist somit die Art und Weise, wie Gesellschaften andernorts – insbesondere im globalen Süden – organisiert sind und ihr Verhältnis zur Natur gestalten. Umgekehrt strukturiert die imperiale Lebensweise im globalen Norden die Gesellschaften an anderen Orten in hierarchischer Weise entscheidend mit. Sie bedarf eines Außens, auf das sie ihre sozialen und ökologischen Kosten verlagern kann.

Die Arbeitsschritte und Ergebnisse des Projekts bestanden erstens in einer Analyse der gegenwärtigen „multiplen Krise“ des globalen Kapitalismus, das heißt der miteinander verbundenen Krisenphänomene in den Bereichen Umwelt, Energie, Wirtschaft, soziale Reproduktion und Demokratie. Die imperiale Lebensweise ist in deren Epizentrum angesiedelt: Sie wirkt in vielen Teilen der Welt verschärfend auf Krisenphänomene wie den Klimawandel, die Vernichtung von Ökosystemen, die soziale Polarisierung, die Verarmung vieler Menschen, die Zerstörung lokaler Ökonomien oder die geopolitischen Spannungen, von denen man noch bis vor wenigen Jahren ausging, sie seien mit dem Ende des Kalten Krieges überwunden worden. Mehr noch: Sie bringt diese Krisenphänomene wesentlich mit hervor. Gleichzeitig trägt sie aber dort, wo sich ihr Nutzen konzentriert, zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei. So wäre es ohne die auf Kosten von Mensch und Natur andernorts hergestellten und eben deshalb billigen Lebensmittel womöglich weitaus schwieriger gewesen, die Reproduktion der unteren Gesellschaftsschichten des globalen Nordens auch angesichts der tiefen Wirtschaftskrise seit 2007 zu gewährleisten.

Dem folgte zweitens eine vor allem auf Karl Marx, Antonio Gramsci, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und feministische Ansätze aufbauende Theoriearbeit, in der wir das Konzept der Lebensweise von dem der Lebensführung und dem des Lebensstils abgegrenzt und die „imperiale Lebensweise“ als Kategorie bestimmt haben, die zwischen dem Alltagshandeln von Menschen und den gesellschaftlichen Strukturen, die diesem Handeln zugrunde liegen und sich in ihm reproduzieren, vermittelt.

Drittens haben wir die historische Entwicklung der imperialen Lebensweise im globalen Norden und ihre in jüngerer Zeit zu beobachtende Ausbreitung auf die Schwellenländer des globalen Südens untersucht. Ein Schwerpunkt lag dabei auf einer Fallstudie zu Automobilität. Bei dieser handelt es sich um einen Bereich, in dem sich die Bestimmungen und Widersprüche der imperialen Lebensweise exemplarisch verdichten: Aufgrund ihrer Ressourcen- und Emissionsintensität ist die Automobilität nicht verallgemeinerbar. Dennoch und trotz eines sich verbreitenden Bewusstseins von der ökologischen Krise ist sie tief im Alltagsverstand und den Alltagspraxen der Menschen des globalen Nordens verankert. Wie andere Aspekte der imperialen Lebensweise ist sie für viele Menschen zugleich Notwendigkeit und Versprechen, Zwang und Voraussetzung des Alltags sowie der gesellschaftlichen Teilhabe, wobei das Verhältnis von Zwang und Ermöglichung sowie die Fähigkeit, sich dem Zwang zu entziehen, mit der sozialen Position der Individuen variieren. Wichtig ist zudem, dass sich die Automobilität in den Mittel- und Oberklassen der aufstrebenden Länder des globalen Südens (China, Indien, Brasilien etc.) gerade mit Macht ausbreitet. Das Außen, auf das die imperiale Lebensweise angewiesen ist, droht dadurch zu verschwinden.

Es ist gerade die Attraktivität der imperialen Lebensweise, ihre globale Ausstrahlungskraft, die ihr mittelfristig die Geschäftsgrundlage entziehen könnte. Gegenwärtig spitzt sich dieser Widerspruch in Gestalt einer Verschärfung der ökologischen Krise sowie einer zunehmenden Konkurrenz um Ressourcen und Senken zu. Diese Konkurrenz behindert etwa die Bemühungen der sog. „Staatengemeinschaft“, sich auf wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel zu verständigen. Auch die Flucht- und Migrationsbewegungen der jüngeren Zeit lassen sich als Erscheinungsform des Widerspruchs der imperialen Lebensweise begreifen. Die Geflüchteten suchen Sicherheit vor den Zerstörungen, wie sie durch die Externalisierung der sozial-ökologischen Kosten des globalen Nordens in ihren Ländern verursacht wurden. Sie streben zudem nach einem besseren Leben, das unter Bedingungen der imperialen Lebensweise in den kapitalistischen Zentren eher zu realisieren ist als anderswo.

In einem vierten Schritt haben wir uns kritisch mit aktuellen Ansätzen der Krisenbearbeitung auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt stand dabei die „grüne Ökonomie“, d.h. der Versuch, durch ökologische Investitionen das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen, für einen Ausgleich zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden zu sorgen und gleichzeitig die ökologische Krise zu überwinden. Das Problem dieses Ansatzes ist, dass die durch ihn zweifellos zu bewirkenden Effizienzsteigerungen in aller Regel durch das Wirtschaftswachstum überkompensiert werden, so dass der Ressourcenverbrauch und die Emissionen allenfalls relativ zurückgehen, d.h. langsamer wachsen als das Bruttoinlandsprodukt, der nötige absolute Rückgang jedoch ausbleibt. Die Angewiesenheit auf ein Außen, auf das sozial-ökologische Kosten verlagert werden können, wird folglich auch in einem „grünen Kapitalismus“ nicht überwunden.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur die Effizienz, sondern vor allem auch die Suffizienz zu thematisieren: Die Beantwortung der Frage, was für ein gutes Leben nötig ist, darf nicht länger dem Markt überlassen. Vielmehr muss sie zum Gegenstand demokratischer Prozesse gemacht werden. Damit haben wir uns im fünften und letzten Arbeitsschritt beschäftigt. Unsere These ist, dass die sozial-ökologische Transformation als Demokratiefrage verstanden werden muss. Demokratie begreifen wir dabei in einem emphatischen, die Grenzen repräsentativ-demokratischer Verfahren transzendierenden Sinn: Es geht darum, dass alle, die von den Folgen einer Entscheidung betroffen sind, gleichberechtigt an deren Zustandekommen beteiligt werden. Auch dann wären (ökologische) Fehlentscheidungen nicht ausgeschlossen. Aber sie wären weniger wahrscheinlich, denn ihre Kosten würden nicht mehr andernorts anfallen, sondern von allen getragen. „Da dies alle wissen“, so Alex Demirović, „würden sie auch eher versuchen, Entscheidungen zu Lasten der Natur in der Nähe und in der Ferne zu verhindern.“ Im Hinblick auf zukünftige Generationen, auf die dieses Prinzip nicht angewendet werden kann, müssen heutige Entscheidungen sich am Prinzip der Reflexivität und Reversibilität orientieren.

Teilergebnisse des Forschungssemesters sind in diese Publikation eingegangen: Markus Wissen (2016): Zwischen Neo-Fossilismus und “grüner Ökonomie”. Entwicklungstendenzen des globalen Energieregimes. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Vol. 46 No. 3, 343-364. Im März 2017 erscheint die Monographie Ulrich Brand/Markus Wissen (2017): Imperiale Lebensweise. Über die Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München: oekom-Verlag.